(Artikel aktualisiert, siehe unten)
Es kocht momentan total hoch: zwei der wahrscheinlichen Koalitionsparteien im Bund haben Konzepte für eine Bahnreform, die beinhalten, Netz und Betrieb zu trennen. (Der Stand der Diskussion zwischen allen drei Parteien ist dabei vollkommen unbekannt, aber es gab eine Meldung in der Presse, deswegen tun alle überrascht.) Die EVG schäumt, die Linke wirft den Grünen Neoliberalismus vor, und es werden immer wieder die gleichen zwei Artikel hervorgekramt, die beweisen sollen, dass das voll gemein sei – wenn denn überhaupt inhaltliche Kritik kommt, und nicht „in der Schweiz ist alles toll und deswegen darf man nie eine andere Organisationsstruktur in Betracht ziehen als das schweizer Modell“ oder gar „einen Teilaspekt des Grünen Konzeptes findet die FDP auch gut, deswegen muss es neoliberal sein und ist daher abzulehnen“.
Für die, die mich nicht kennen, ein Disclaimer: ich kenne mich ziemlich gut mit Bahn aus, aber meine Expertise reicht außerhalb Deutschlands nicht sehr weit. Ich weiß nicht viele Details über das Schweizer System. Was ich aber weiß: es gibt in der Schweiz nicht nur die SBB, sondern andere Anbieter, und demnach einen Mechanismus, wie festgelegt wird, welche Leistung von welchem Unternehmen erbracht werden muss. Den Mechanismus selbst kenne ich, wie gesagt, nicht, aber es muss ihn geben. Auch in Österreich, einem EU-Land mit Staatsbahn ÖBB, gibt es mit der Westbahn eine private Konkurrenz. Wer also die Existenz von privaten Anbietern grundsätzlich ablehnt und das mit Verweis auf SBB oder ÖBB tut, übersieht einfach einen wichtigen Aspekt der Systeme in beiden Ländern.
Zurück nach Deutschland und zunächst zum aktuellen System, insbesondere Netz und Fernverkehr (denn daran entzündet sich ja die Diskussion; niemand diskutiert über den Regionalverkehr oder den Güterverkehr; letzterer ist ja sogar in der Schweiz deutlich komplizierter). Das Netz ist in einem Teilbereich der privat- genauer: aktienrechtlichen, aber in Staatseigentum befindlichen, Deutsche Bahn AG organisiert und dazu verpflichtet, Gewinn zu erwirtschaften. Dabei verwaltet die DB Netz (ich lasse die Unterscheidung zwischen DB Netze und DB Netz hier mal raus) ein natürliches (Infrastruktur-)Monopol.
Der Fernverkehr ist in Deutschland eigenwirtschaftlich zu betreiben, das bedeutet, dass es keinerlei Subventionen geben darf, und daraus folgt, dass unrentable Strecken nicht bedient werden können. Dass es mit der DB Fernverkehr einen Quasi-Monopolisten gibt, spielt dabei keine Rolle, ebensowenig die Besitzverhältnisse der DB Fernverkehr (wie die DB Netz ein Teilbereich der staatseigenen Aktiengesellschaft). Der Bund hat nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten auf das operative Geschäft; außer der Äußerung von Wünschen kann er eigentlich nur den Vorstand austauschen. Also: weil es es de jure einen Wettbewerb gibt (auch wenn dieser de facto nicht stattfindet – FlixDings ist einfach aktuell keine ernst zu nehmende Konkurrenz), darf der Staat der DB Fernverkehr keine Vorschriften machen, was diese zu fahren hat, und darf keinen Verkehr subventionieren. Im aktuellen System wäre das eine Wettbewerbsverzerrung: wieso sollte die DB Subventionen kriegen, Flix aber nicht? Es gibt keinen Mechanismus, zwischen beiden, oder auch noch mit anderen Anbietern dabei, auszuwählen. Eigenwirtschaftlichkeit bedeutet einen vollkommen politischen Prozessen, Abwägungen und Wünschen entzogenen Verkehr. Durch die gleiche Problematik kann es auch keine enge Absprache zwischen DB Fernverkehr und DB Netz geben hinsichtlich der Baustellen- oder Infrastrukturplanung.
Das ist, wohlgemerkt, deskriptiv und nicht normativ. Ich will das heutige System darstellen, nicht verteidigen. Das System ist nicht gut. Der einzige Grund, warum das aktuelle System überhaupt funktioniert ist die faktische Abwesenheit von Wettbewerb im Fernverkehr.
Aber ich schreibe es auf, weil sowohl Bahn für alle als auch die EVG viele dieser Aspekte entweder behaupten (enge Zusammenarbeit zwischen DB Fernverkehr und DB Netz) oder als Folge der aktuell diskutierten Pläne befürchten (es könne dann ja im Fernverkehr keine unrentablen Verbindungen mehr geben) – sie befürchten also, dass durch die Pläne genau das entsteht, was es aber schon gibt. Daraus ergibt sich einfach kein sinnvoller Standpunkt.
Kommen wir nun also zu dem Konzept. (Ich werde kein FDP-Konzept besprechen oder verteidigen und konzentriere mich auf die Grünen; da niemand weiß, wie der aktuelle Diskussionsstand ist und die Kritik keine Unterscheidung macht (die mir aufgefallen wäre), ist das in meinen Augen gerechtfertigt.) Es besteht, abgesehen vom NoBrainer „mehr Geld ins System“, über das sich eigentlich alle einig sind, aus zwei Teilaspekten:
- Schluss mit Gewinnerwartung aus dem Netz. Das Netz muss unter direkter Kontrolle des Bundes sein.
- Schluss mit Eigenwirtschaftlichkeit im Fernverkehr. Es muss eine direkte staatliche Einflussnahme darauf geben können, welcher Fernverkehr angeboten wird.
Ich habe noch kein Argument gegen den ersten Punkt gehört; die einzige Kritik scheint zu sein, dass die „direkte Kontrolle des Bundes“ nur auf das Netz beschränkt ist. Dann ist aber nicht die Aufspaltung an sich schädlich, sondern der Verbleib des Nicht-Netz-Restes; hier wird nicht kritisiert, was geplant ist, sondern nur, dass es nicht weit genug geht. Ok – aber die Kommunikation ist an jeder Stelle, dass es in die falsche Richtung ginge.
Was den Fernverkehr angeht: eigentlich sollten sich alle hinter dem formulierten Ziel versammeln können. Die EVG ruft laut nach dem Deutschlandtakt, sagt aber überhaupt nicht, wie der Fernverkehr organisiert sein sollte, um sicherzustellen, dass die darin enthaltenen Angebote auch verwirklicht werden können. (Statt dessen listet sie „12 Gründe“ auf, die sich allesamt zusammenfassen lassen als „irgendwie fänden wir es besser, wenn alles zusammen wäre“ und die voraussetzen, dass das Netz in einer nicht-integrierten Zukunft immer noch ein profitorientiertes Unternehmen sein würde. Das eben verlinkte Papier wäre es vielleicht wert, Zeile für Zeile kommentiert zu werden, aber das mache ich nicht hier und jetzt.)
Aber zurück zum Konzept: die Idee ist, dass der Bund vorgibt, welche Fernverkehrsverbindungen es geben muss, und dann Unternehmen sucht, die diese anbieten. Die Erwartung ist, dass die meisten Aufträge an das aktuell größte Unternehmen – die bundeseigene DB Fernverkehr – gehen, dass es aber auch andere Anbieter geben wird, die bestimmte Aufgaben übernehmen. Bei dem großen Umfang der Verkehrsleistungen im Fernverkehr allgemein und der durch den Deutschlandtakt erwarteten Angebotsausweitung wirkt die Befürchtung der EVG, dass damit die DB Fernverkehr netto Verkehrsleistungen verlieren könnte, unrealistisch – aber ich erkenne an, dass das eine politische Einschätzung ist, über die Uneinigkeit vollkommen legitim ist. Nun ist die Befürchtung der Gewerkschaft vor schlechteren Arbeitsbedingungen allerdings ein wenig verwunderlich, denn wenn der Bund privaten Anbietern diktieren kann, was diese zu leisten haben, und genehmigen muss, dass sie bestimmte Strecken fahren, kann er auch soziale Standards für das dort eingesetzte Personal einfordern. Das kann er aktuell nicht. Die Konzessionierungen allerdings eröffnen eine direkte Einflussmöglichkeit nicht nur in das Angebot, sondern auch in die Arbeitsbedingungen. Nun mag man den beteiligten Parteien nicht zutrauen, dort eine Priorität zu setzen, aber dann gäbe es auch keinen Grund zu glauben, dass die Arbeitsbedingungen in einer Staatsbahn „gut bleiben“ oder sich „wieder verbessern“ (je nach eigener Einschätzung der aktuellen Lage): hier sind ja die gleichen politischen Handelnden beteiligt. Dass Arbeitsbedingungen auch per Gesetz beeinflusst werden können, die wiederum arbeits- und nicht eisenbahnorganisationsrechtlich festgelegt werden, lässt das ebenso vollkommen außer Acht.
Nun ist der Status Quo richtig schlecht; es gibt ein Konzept, das wesentliche Verbesserungen bringen würde, aber das Element „Wettbewerb um die Konzessionen“ beinhalten würde. (Wohlgemerkt: der einzige aktuelle Wettbewerber auf dem Deutschen Markt, FlixDings, lehnt das Konzept ab, denn sie wollen lieber fahren, was sie möchten und nicht, was der Bund will.) Es wird als Alternativkonzept nach einer Staatsbahn gerufen, und dies wird argumentativ mit verkürzten Blicken auf Österreich und die Schweiz untermauert; ein ausgearbeitetes Konzept, wie in diesem System aber Infrastruktur, Regionalverkehr, Fernverkehr und Güterverkehr organisiert sein sollen, kenne ich aber nicht. (Vom Regionalverkehr habe ich noch gar nicht geschrieben. Weil dieser von den Ländern bestellt wird, kollidiert das mit einem „einfachen“ Staatsbahnmodell. Das heißt nicht: „schließt aus“, sondern „muss gesondert organisiert werden“.)
Leider ignoriert ein Großteil der Diskussion wesentliche Aspekte und/oder stellt das aktuelle System falsch dar. Die Triggerworte „mehr Wettbewerb“ (kommt von Befürworter*innen und Autor*innen der Konzepte) und „Zerschlagung des Konzerns“ (kommt von Gegner*innen) sind wenig hilfreich. Diesen Artikel habe ich geschrieben, um in Diskussionen darauf verweisen zu können; er überschreitet die auf Twitter mögliche Komplexität doch deutlich.
Korrektur: Eine frühere Version dieses Artikels verwies auf das Schreckgespenst des Tarifdschungels; mir ist aufgefallen, dass die EVG damit die Lohn- und nicht die Fahrpreisstruktur meint und meine Kritik darüber damit unberechtigt war.