Ich stimme dagegen

Ich werde gegen den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP im Bund stimmen. Vorweg: ich gehe nicht davon aus, dass ich damit zur Mehrheit der abstimmenden Mitglieder gehöre. (Ich werde nicht, wie ich kurz erwägt habe, bei einem mehrheitlichen Ja austreten.) Ich will mich aber der Verantwortung, die aus einem mehrheitlichen Nein entsprünge, nicht entziehen. Ein mehrheitliches Nein hieße, die Parteiführung hat in der Entscheidung, ob sie das Verhandlungsergebnis empfehlen solle, gegen die Interessen der Basis gehandelt. Es ist schwer vorstellbar, dass das keine negativen politischen Auswirkungen auf die Führung hätte. Da ich Annalena Baerbock und Robert Habeck für wirklich gute und geeignete Menschen an der Spitze der Partei halte, wäre das schade.

Ich stimme mit meiner Ablehnung nicht gegen die Arbeit des Verhandlungsteams – ich glaube: mehr war nicht drin. Aber ich stimme gegen die Einschätzung, dass man mit diesem nicht zu verbessernden Ergebnis in eine Regierung eintreten sollte. Meine Hauptkritikpunkte sind die Ergebnisse meiner beiden Hauptinteressen: die Verkehrspolitik und damit verbunden die Besetzung des Verkehrsministeriums und die fehlende 1,5°C-Kompatibilität des Programms.

In meiner Abwägung der letzten Woche habe ich versucht, viel Input zu erhalten. Ich habe mich mit vielen Menschen unterhalten, aus der Twitter-Bahnblase, mit der Fahrradblase ebendort; von vielen dort habe ich erst gelernt, dass sie auch vor der gleichen Entscheidung stehen, bei anderen wusste ich es vorher. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mobilität der Grünen hatte eine sehr gute inhaltliche Auseinandersetzung, ich habe den Lage der Nation-Podcast zum Vertrag interessiert gehört. Ich habe ein Umfeld, in dem viele Menschen (mindestens dieses Mal) die Grünen gewählt haben, und diese habe ich nach ihrem Eindruck „von außen“ befragt. Jan Böhmermanns Ansichten habe ich mir ebenfalls zu Gemüte geführt. Ich habe viele gute, und auch einige schlechte, Argumente gehört.

Unter „schlechten Argumenten“ verstehe ich Angst-Argumente nach dem Motto „aber vielleicht wird sonst alles noch schlimmer“. Ja, kann passieren. Es kann aber auch besser werden. Was stelle ich mir nach einem Nein vor? Einerseits könnte die SPD eine erneute Groko eingehen – nach 2017 also wieder in der gleichen Weise wortbrüchig werden, als schon einmal eine Groko für auf jeden Fall beendet erklärt wurde und dann – unter den gleichen Argumenten, die mir heute entgegengebracht werden – doch wieder eingegangen wurde. Kann auch dieses Mal passieren, klar. Oder Jamaika? Noch unwahrscheinlicher, in meiner Wahrnehmung.

Bleiben Neuwahlen. „Ja aber vielleicht schneiden die Grünen da schlechter ab!“ Auch hier der Verweis auf 2017: der Eintritt in die Groko hat der SPD kurzfristig enorm geschadet; das „sonst sinken wir auf 16%“-Argument hatte sich in den Umfragen eben trotzdem verwirklicht. Nun ist die Situation für die Grünen natürlich eine andere, aber dennoch muss ein Eintritt in eine schlechte Koalition (wenn man denn diese Bewertung teilt) keine Garantie gegen einen Einbruch in den Umfragen und damit auch in den Wahlergebnissen bei den nächsten Landes- oder Kommunalwahlen darstellen. Vielleicht stehen die Grünen mit einer standhaften Basis auch besser da als vorher? Und was die langfristigen Auswirkungen angeht: die FDP hat trotz des gleichen Protagonisten, der 2017 noch gelindnert hat, ein knappes Prozentpunkt hinzugewonnen. Nein, keinen der vier möglichen Automatismen „Koalition (eingehen/verhindern) = Partei (gerettet/kaputt)“ gibt es. Also bin ich optimistisch und glaube an die Strahlkraft der Grünen Argumente, verknüpft mit einem offensiven „es ist uns wirklich wichtig“ aus der Ablehnung, und glaube an ein besseres Ergebnis bei Neuwahlen. Und dann gestärkte Verhandler*innen, die einen Trumpf in der Hinterhand haben: „ihr wisst, dass unsere Basis das ablehnen wird“.

Und was ändert sich noch? Vielleicht hat RGR am Ende doch auch eine Mehrheit. Das würde die Verhandlungsposition von SPD und Grünen nochmal deutlich stärken, müssten doch die Teams den Gremien und der Basis schlüssig darlegen, warum keine Vermögenssteuer mit der FDP besser ist als ein Formelkompromiss zur Nato mit der Linken. (Das setzt natürlich auch den Willen zum Regieren bei der Linken voraus…)

Ein anders, nicht ganz so schlechtes, Argument, ist die aktuelle Corona-Pandemie. Es müsse ja eine handlungsfähige Regierung geben. Nun, ganz einfach: wir haben eine Regierung. Diese hat sogar eine parlamentarische Mehrheit. Sie will halt nur nicht mehr so recht, weil die Union offensichtlich die Lust auf Regieren verloren hat. Das würde sich aber mit baldigen Neuwahlen schnell und deutlich ändern, will die Union nicht ihr Ergebnis von 2021 noch unterbieten.

Aber mal zu den Inhalten des Vertrages. Da steht eine Menge Gutes drin. Die Lage der Nation hat es gut dargestellt: insbesondere in progressiven gesellschaftlichen Fragen gibt es eine Menge, auf das man sich freuen kann. Und würde die Koalition nach 2 Jahren Abarbeiten der Fortschritte in diesen Bereichen zerbrechen, könnte ich damit gut leben.

Das große Manko sind aber, wie angedeutet, die außerhalb der Sätze zur Bahn vollkommen unzureichenden verkehrs- und klimapolitischen Vorhaben. Viele Grüne Kernforderungen sind nicht durchgesetzt worden und teilweise sogar explizit ausgeschlossen: kein Tempolimit 130, was dem Vernehmen nach auch die SPD, trotz Basisbeschluss von 2009 und Wahlprogramm, vehement herausverhandelt hat. Keine Abschaffung der Pendlerpauschale oder des Dienstwagenprivilegs. Kein Veto des Klimaschutzministeriums zu Gesetzesentwürfen der anderen Ministerien. Und dann eben ein Verkehrsminister aus der FDP, der sich bei Spiegel und Bild nach Vorstellung des Vertrages als „Anwalt der Autofahrer“ feiern lässt – auch wenn das wohl kein Zitat von ihm ist, wird der Eindruck bei den Interviewern nicht aus dem nichts entstanden sein. Der unter „Mobilität muss bezahlbar sein“ nicht versteht, dass der öffentliche Verkehr billiger werden muss, sondern, dass Autofahrer*innen entlastet werden müssen – also diejenigen, deren Mobilität deutlich weniger teurer geworden sind.

Ich glaube nicht, dass eine Koalition unter Beteiligung der Grünen so zu unserm Vorteil funktionieren kann. Unsere MdB können versuchen, dem Verkehrsminister Paroli zu bieten, aber das bedeutet eben auch, die Rolle der Opposition innerhalb der Regierung einzunehmen. Die letzte Partei, die dies gemacht hat, war die FDP im Kabinett Merkel Ⅱ (also 2009-2013), als Guido Westerwelle den Umstieg von Oppositionsarbeit auf Regierungsverantwortung nicht geschafft hat. (Klar, damals gab es auch noch andere Pfeifen, im Gegensatz zu uns, hoffe ich, aber dennoch:) Der FDP hat das nicht gut getan. Wieso sollte es uns besser bekommen, ständig die Arbeit der eigenen Regierung kritisieren zu müssen oder, umgekehrt, ständig die (in unserem Sinne schlechte) Arbeit der Regierung nicht kritisieren zu können?

Dann ist die Frage „was sonst“? Welches Ministerium hätten die Grünen denn aufgeben sollen, damit ich mein Lieblingsressort in unserer Hand sehen dürfte? Erstens stellt sich die Frage heute nicht mehr – die Ressorts sind aufgeteilt und ich will nicht die Verhandlungen kritisieren. Zweitens, für Verhandlungen nach Neuwahlen unter gleichen Umständen:

Wären die Grünen ohne diese Koalition besser dran? Ich weiß es nicht. Beides ist riskant: eine Annahme würde die jetzt schon beginnenden „Verrat“-Rufe von Links verstärken und Wähler*innen verprellen; eine Ablehnung würde die „Gurkentruppe“-Rufe verstärken und Wähler*innen verprellen. Es gibt keine Garantie für eine Verbesserung durch ein Nein. Dennoch bin ich optimistisch und habe Vertrauen in unsere Stärke. Und daher lauter meine Antwort auf den Koalitionsvertrag „nein“. Nein, und better luck next time.

Und ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung ist.

Update, einen Tag später (1.12.2021): Einerseits ein Schreibfehler oben: ich will mich „der Verantwortung, die aus einem mehrheitlichen Nein entsprünge“, nicht entziehen. (Das Wort „nicht“ hat gefehlt.) Andererseits habe ich gestern abend noch einen sehr, sehr guten Twitter-Thread von @Lenny_du_Nord zur Aufteilung der Ministerien gelesen, der mir eine plausible Erklärung für den „Verlust“ des Verkehrsministeriums und Hoffnung für die Regierungszeit gegeben hat.


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